über
die Anfänge vom
OTTO
REUTTER ABEND
"Der
Überzieher"
Auf
dem Theaterkahn Dresden
Premiere
2002
September 2000
Ich
saß etwas unbeteiligt und von mir selbst gelangweilt zu Hause und
suchte ziellos in meinen Schallplatten. Etwas sollte geschehen, um
diesen Tag aus seiner Belanglosigkeit zu befreien.
Vielleicht
würde sich ein Lied finden, ein Atem vergangener Zeit.
Vielleicht
ließe ich mich fallen in Bilder gelebter Tage - süß oder bitter,
aber immer Vertrauen erweckend.
Mit Melodien ist es wie mit
Gerüchen, sie spulen die Zeit zurück. Manchmal weiß ich sogar
noch, was ich an diesem oder jenem Tag anhatte.
Ich fühle jenes
Gemisch aus Bier und Cola unter meinen Fußsohlen, das die
Kulturhäuser meiner Stadt wie ein Teppich überzog.
"Leg
mir ein Buch und eine Idee vor", sagte mir Friedrich - Wilhelm
Junge, der Chef des Theaterkahns, mir seid langem vertraut durch
unsere bisherigen Inszenierungen auf selbiger Bühne. Er sah mich an,
eine Weißweinschorle schlürfend, während ich auf seinem Platz im
Büro gedankenverloren mit dem Bleistift die Buchstaben der
Tageszeitung zumalte. "Meinst du das ernst?", fuhr ich nach
oben. "Ein Otto Reutter Abend gehört auf den Kahn, und wenn Du
ihn machen willst, dann mach ihn. Du wirst nächstes Jahr 40 und es
ist Zeit für Deine Feuertaufe."
Feuertaufe...Ich stehe pro
Jahr 150mal auf der Bühne..., ich bin bereits getauft,.. denke ich.
Ich
begann eifrig Reutter Texte zu besorgen. Keine leichte Aufgabe, denn
eine Gesamtausgabe existiert nicht. Auch die Noten in ihrem ganzen
Umfang zu aufzutreiben, erwies sich als schwer.
Den Winter hindurch
verteile ich die Texte nachts auf dem Fußboden meiner Küche. Ich
schob die Lieder hin und her, schnitt und klebte Strophen aufs
Papier.
Welche Couplets sind wichtig, welche unwichtig?
Ich
besaß bald Unmengen von Tonaufnahmen, die von Otto Reutter selbst
erschienen sind und mir war der Kopf von
seiner
Musik verklebt, wie unsere Nase sich überfordert fühlt, sucht sie
zulange nach dem passenden Parfüm.
Im
Frühling des Jahres 2001 fragte ich Sebastian Reuter, Chef der
Tonabteilung des Schauspielhauses in Dresden, ob er mich bei meinem
Abend auf dem Flügel begleiten würde. War ich bisher allein mit
meinem Traum, wollte ich nun umso mehr meine Gedanken teilen und auch
diskutieren. Ich wusste von Sebastians Talent, Bühnenmusiken zu
schreiben, und hoffte auf einen Menschen zu treffen, der sich mit
seinem Klavierspiel im wahrsten Sinne des Wortes auch als Spieler
begreift.
"Mich interessiert nicht der Vortragskünstler
neben seinem Pianisten. Wer ins Theater geht, möchte sich
wiedererkennen, der möchte auf Darsteller treffen, welche ihn an
sich und seine Zeit erinnern. Dazu gehört all unser Weinen und
Lachen, unser Denken, unser Alter, unsere Wut, unsere ganze
Leidenschaft, der Blick auf die Kleinigkeiten, die das Große erst
groß machen, der wartende Mann an der Haltestelle, der sich
unbeobachtet fühlt, das streitsüchtige Pärchen, das seinen
Überdruss an sich selbst nur noch schwer verbergen kann, die
Laternen meiner Straße im Nieselregen."
Wir
arbeiteten von nun an beide an dem Projekt, das der "Überzieher"
heißen sollte, und heute kann ich von einem Glücksfall sprechen,
denn unser Zusammentreffen erwies sich als enthusiastisch und voller
Humor. Sebastian komponierte die fehlende Musik, ich lernte Texte wie
ein Geistesabwesender, brubbelte vor mich hin wo ich stand oder ging,
überall kleine Zettel in den Taschen, auch für mögliche Ideen,
Schnellschüsse, welche ich mir hastig während der Pause einer
laufenden Vorstellung mit einem Bleistift notierte.
Ich schrieb
Zwischentexte, welche wir wieder verwarfen, ich entwarf ein
Bühnenbild, welches wir nicht gebrauchen konnten.
Das
schwierigste aber war, dass es auch noch andere wunderbare und große
Rollen gab, welche ich zu dieser Zeit am Schauspielhaus spielte und
probierte. Manchmal lief ich voller Sorge um mein Projekt durch die
Straßen, denn immer wieder wurden wir von anderen Arbeiten
unterbrochen.
So
verbrachte ich meine Abende mit Saladin und Tellheim, meine
Vormittage mit Stanley Gardner aus "Lügen haben junge Beine"
und meine Nachmittage und Nächte mit Gesangsproben für den
Überzieher.
"Du mußt es nicht übertreiben, nicht
erzwingen, wenn nicht jetzt, dann später, keiner treibt dich, wo die
Zeit fehlt, fängt der Zwang an, und der Zwang macht den Menschen
krank!"
In jeder Arbeit steht das Scheitern zuverlässig
neben dir wie ein Schatten und wartet mit der Beharrlichkeit einer
Katze vor dem Mauseloch nur darauf, dass du den Mut oder die Kraft
verlierst und aufgibst.
Wenn man aber eine Leidenschaft hat und
einen guten Gedanken dazu, gibt es keinen wirklichen Grund, an
irgendwen und irgendetwas zu zweifeln, denn auch der Zweifel macht
uns krank, jenes allzu viele Abwägen, die zum gesellschaftlichen
Phänomen gewordene Angst vor Fehlern macht uns leblos und
langweilig, so dass wir am Ende im Nichtstun verharren.
Ich hatte
zu dieser Zeit Kraft für zehn und Zuversicht für hundert, denn die
ersten Umrisse des Abends wurden sichtbar.
Am 22. Oktober 2002,
nach insgesamt 2 Jahren Arbeit, hatte der "Überzieher"
seine restlos ausverkaufte Premiere auf dem Theaterkahn. Einen Abend
vorher sitze ich zu Hause, leblos vor Erschöpfung, vor dem
Fernseher, gucke die Kulturtipps für den nächsten Tag und sehe mich
angekündigt.
"Am
Anfang war die Idee", denke ich ...
Ahmad
Mesgarha am 24.September 2003