6:40
Die Nacht in karger Kammer habe ich nur mäßig verbracht. Das Bett, so schmal wie ein Handtuch, bot wenig Platz für die müden Beine. Ich koche Kaffee. Mein kleiner Wasserkocher, ein treuer Begleiter seit ewigen Zeiten, hilft mir dabei. Ich gehe die Strecke noch einmal durch.
In Hörschel wo unser Lauf enden wird, beginnt der Rennsteigweg. Unser Ziel ist also ein neuer Anfang.
Ich habe Schmerzen im rechten Fuß. Es ist erträglich, aber hinderlich und ich bin froh, dass heute der letzte Tag ist. Dennoch Euphorie. Mein Gott, ich wage gar nicht daran zu denken was wir geschafft haben.
9:00
Wir stehen in der Morgensonne. Ulli gibt wie immer das Zeichen und es geht los.
Ein prachtvoller Sommertag. Die Wiesen duften altsommerlich. Heute laufen wir aus der Startergruppe heraus zu dritt. Michael, Jörn und ich. Wir finden schnell unser Tempo. Jörn hat Lauferfahrung und ist ebenfalls zu jedem Scherz aufgelegt.
Der Anstieg ist gewaltig fast 200 Höhenmeter. Wir müssen gehen. In der Waldschenke am Dreiherrenstein, bei Kilometer 6,4 kehren wir ein, aber nicht um zu trinken sondern für unseren Stempel. Die Wirtin ist extra früh aufgestanden. Sie ist hübsch und stempelt mit kleinen ironischen Bemerkungen unsere Blätter ab.
Auf den Weg zurückgekehrt werten wir, ganz Mann, ihre reizvolle Erscheinung auf das köstlichste aus. Das hätten wir lieber nicht tun sollen. Wir verloren im Geschwätz das berüchtigte weiße R mußten missmutig umkehren und hatten ab sofort 1 km und 50 Höhenmeter mehr im Gepäck.
Entlang der Glasbachwiese wird die Natur immer schöner. Die Sonne wärmt und der Ausblick ist gigantisch.
Da ist sie die Wartburg. Luther hat hier 1521 das neue Testament übersetzt. Sein Aufenthalt sollte ein Geheimnis sein. Deshalb versteckte er sich dort unter den Namen Junker Jörg.
Vorbei am Vachaer Stein wird das Gelände mit Wurzelwerk überdeckt. Frank, Wolfgang, Markus die schnellen Läufer überholen uns. Sie sind eine halbe Stunde später gestartet. Ebenso überholen wir die vor uns gestarteten Gruppen. Stück für Stück. Schnell merkt man wem es heute gut oder schlecht geht. "Glück auf den Weg!"
Da ist sie auch schon, die Autobahnbrücke von Hörschel.
Ich beschließe etwas Tempo zu machen. Es geht noch was. Die Beine machen mit. Der Weg geht abwärts. Man muss sich sehr konzentrieren. Aber die Euphorie, das Adrenalin steigt. Es ist wahrhaftig so. Nach fünf Tagen laufe ich in Hörschel ins Ziel.
Erst jetzt wird mir wirklich bewusst dass ich es überstanden habe. Ich habe etwas für mich Unmögliches Wirklichkeit werden lassen.
Ich bin in fünf Tagen von Blankenstein nach Hörschel gelaufen. Habe dafür 20 Stunden und 16 Minuten gebraucht und dabei 13000 kcal verbrannt, 3300 positiven Höhenmetern bewältigt und insgesamt 174 km zurückgelegt.
Ich bin angekommen, obwohl es kalt war, obwohl der Regen quälte und der Fuß schmerzte, ich bin da, obwohl ich mich über 5 km zusätzlich verlief und mir der Mut fast abhanden kam, ich bin da, obwohl ich nicht wußte, ob ich das kann, ich habe es gemacht ohne Versicherung, nur mit mir selbst, für mich selbst, meinen Beinen, meinem Athem und meinem Willen und es scheint die Sonne, wie eine Goldmedalie und überstrahlt das Pflaster auf dem Weg vor dem "Tor zum Rennnstein"
Ulli die lebende Legende, Vater von allem und gute Seele gratuliert. Die schnelleren Läufer und die Läufer aus den vorderen Startfeldern feiern. Und von diesem Augenblick an feiern wir gemeinsam die Neuankömmlinge. Wir fallen uns in die Arme. Eine große Gemeinschaft völlig verrückter Goldmedaillengewinner.
17:46
"Kommst du zum Stein werfen?" Achims WhatsApp läßt mich hochschrecken. Stimmt. Der Stein, wo ist der Stein? Heute Abend wollten wir unseren Stein in die Werra werfen. Fünf Tage hatte ich ihn bei mir. Er hat alles miterlebt. Nun wird er wieder frei gelassen, denn der Bote ist angekommen. Ich schlüpfe so schnell ich kann in meine Jeans, das gehen fällt schwer, unten warten schon alle. 30 Steine fliegen in das Wasser, so wie es der Brauch verlangt nach langer thüringer Pilgerschaft.
22:30
Ich sitze am Wasser und rauche. Hier raucht keiner und irgendwie passt das so gar nicht zu den Siegerehrungen und Huldigungen. Es passt vielleicht zu meinem schweren Koffer, der im Zimmer 18 unter dem Dach die Dielen quält.
Ich rauche und starre auf das stille Nass, über mir rauscht die Autobahn. Verlässlich surren die Container der LKWs über den entfernten Beton. Sie bringen das eine zum anderen und das andere zu einem. Sie mögen weit fahren und von sehr weit kommen, da oben im Himmel. Ich zähle die Autos. 9 von links, 2 von rechts.
Da blendet mich ein Licht. Eine Taschenlampe sucht Halt und verfängt sich in meinem Gesicht. "Ist hier die Werra?" "Ja." Ich antworte und verstecke instinktiv meine Zigarette. "Da vorne. Du musst noch 10 Meter gehen! Das Wasser ist still." Vor mir steht ein hochgewachsener Mann. Er mag 25 Jahre alt sein mit einem übermäßigen Rucksack. Schwer wie mein Koffer denke ich.
"Hast du mal eine Zigarette?"
"Nein, aber du kannst meine zu Ende rauchen, sie ist noch mehr als halb. Was suchst du?" Ich reiche ihm den Rest der Zigarette, er nimmt sie mit breiten Händen und zieht tief den Tabak in die Lungen.
"Ich brauche einen Stein. Einen kleinen Stein aus der Werra. Ich werde ihn in sieben Tagen in die Selbitz werfen."
"Du läufst nach Blankenstein?" frage ich.
"Ja!" antwortet er. "168,3km."
"Ich weiß! Da komm ich gerade her." Wir grinsen durch die Dunkelheit, er reicht mir den ehrenvollen letzten Zug. Ich aber weise ab.
"Nein, ich hab schon. Die ist für dich. Glück auf den Weg."
"Danke",
"Bitte",
"Ciao!",
"Ciao!"